Am Wochenende – 15/16 Juni 2019
Historisches Geschirr
Die Retter der Tafelrunde
Für die einen ist es nur Geschirr mit Blumen, Kenner legen Wert darauf, dass die Serie „Terre de Fer“ aus der Zeit der Dritten Republik stammt.
(Foto: Die Vitrine Berlin)
Edles Porzellan aus der Kaiserzeit für ein privates Essen mit zwölf Personen? Kein Thema, das regelt neuerdings ein Verleih für historisches Geschirr.
Von Jan Kedves
Das Auge isst mit. Bei Jean-Philippe Reineau gilt die kulinarische Weisheit auf etwas andere Art. Er kocht in seinem Laden nämlich nicht, sondern verleiht schönes „Geschirr mit Geschichte für jeden Anlass“. So steht es auf der Website des Geschäfts, das der Franzose im April in einem denkmalgeschützten Haus in Berlin-Schöneberg eröffnet hat. Der Verleih heißt „Die Vitrine“ – wie das Möbelstück, in dem man früher stolz das gute Geschirr aufbewahrte.
Die Idee ist eigentlich genial: Fast keiner hat ja heute mehr komplette Geschirrsets für die Bewirtung von sechs, zwölf oder mehr Personen im Schrank. Man hat so etwas vielleicht mal von Oma geerbt, in Teilen, aber man hat es weggegeben oder auf dem Flohmarkt verkauft, weil: Wo verstauen in der Einzimmerwohnung, und was soll man auch damit? Billigteller vom schwedischen Möbelhaus reichen. Oder man pflegt den gängigen weißen Tisch-Minimalismus in etwas teurer. Doch dann kommt die Sehnsucht. Bei einem besonderen Anlass will man doch von edlem Geschirr speisen, mit Kristall und Silber, mit Tischdecke, passender Vase, allem Pipapo. Der runde Geburtstag könnte so ein Anlass sein, die Einweihung der neuen Wohnung, die Hochzeit. Für solche Abende, für die besondere Runde, kann man sich das Komplettpaket nun also auch mieten (je nach Aufwand von vier bis 20 Euro pro Person).
Reineaus Sortiment ist erstaunlich vielseitig. Das älteste Service stammt aus den 1870er-Jahren: weiß mit blauem Blumendekor. Es heißt „Terre de Fer“ und war zu Zeiten der Dritten Republik bei den Franzosen beliebt. Jüngere Service stammen aus den 1970er-Jahren, zum Beispiel hat Reineau ein Set für zwölf Personen vom goldumrandeten Originalgeschirr aus dem abgerissenen Palast der Republik der DDR, verziert mit „PdR“-Kürzel. Zu seinen edelsten Service gehört die „Tokyo“-Serie von Gien aus dem Loiretal, mit japanisch inspiriertem Paradiesvogel. Er trägt einen pinkfarbenen Kamm auf dem Köpfchen.
Reineau stammt aus dem Loiretal. Er ist Tiefbau-Ingenieur mit zweitem Diplom in Informatik. Er lebte lange in Paris und bekam dann das Angebot, in Berlin „auf großen Baustellen zu arbeiten, Potsdamer Platz, Ringcenter, und so weiter“, erzählt er. Man könnte sagen, dass er nun, mit 50, den Wunsch verspürt, sein Leben noch einmal auf den Kopf zu stellen, um das Grobe, das unter der Erde geschieht und dann unter Glas und Stahl verschwindet, einzutauschen gegen das Schöne, das auf dem Tisch steht und alle erfreut. Im Freundeskreis war er schon lange bekannt als passionierter Geschirrsammler, der sein Rosenservice aus Limoges hütet, das „Tante Madeleine in den 1920er-Jahren zu ihrer Hochzeit geschenkt bekam“. Wie viele Generationen haben von diesen Tellern schon gegessen, vier, fünf? „Das hat gelebt. Das gehörte zur Familie. Damit hatten Leute Spaß“, schwärmt Reineau. So ein Geschirr nur aufzubewahren und anzuschauen, fände er nicht richtig: „Das muss weiterleben!“
Das Schöne an Nostalgie ist ja, dass sie meist selektiv ist. Kaum jemand will die alten Zeiten komplett zurückhaben, aber ein Eindruck davon kann gut schmecken. Früher war ein teures Service oft Teil der Mitgift, die eine Braut mit in die Ehe bekam. Wenn genug Geld da war, wurde die Sammlung immer weiter ausgebaut – der Stolz jeder Hausfrau. Wenn so ein Geschirr heute Teil der Sharing-Economy wird, wenn man es sich also so ausleiht, wie man sich ein E-Auto leiht, dann heißt das wohl kaum, dass man sich nach einem alten Frauenbild sehnt oder der patriarchalen Kernfamilie. Es ist ein moderner Umgang mit Freuden von früher – die, vor allem für Frauen, gar nicht immer Freuden waren.
Jeden Mittwoch deckt Jean-Philippe Reineau den Tisch in seinem Schaufenster neu ein, mit Blumen vom Winterfeldmarkt um die Ecke und einem Thema im Kopf, „Portugal“ oder „Spargel“ oder etwas anderes. Die Schöneberger, die auf dem Weg zum Markt an der Vitrine vorbei flanieren, können sich so immer neue Inspirationen holen. Ein Foto des Tischs steht natürlich auch auf Instagram (@dievitrineberlin).
Zur Eröffnung hatte Reineau gleich einen Großauftrag: ein Büffet für ein neues Gewerbe- und Wohnbauprojekt in Kreuzberg. Die Architektur: sehr modern, mit viel nacktem Beton. Ein hübscher Kontrast. Die 200 Gäste speisten auf dem historischen Geschirr aus der Vitrine, das ganze Haus stand offen, das heißt, das Geschirr verteilte sich im Laufe des Abends über sieben Etagen. „Aber es gingen nur ein Teller und ein Glas kaputt“, freut sich Reineau.
Das Abspülen in der Vitrine gehört unbedingt zum Service dazu
Er wertet das als Zeichen dafür, dass die Wertschätzung für Porzellan und gutes Geschirr intuitiv eben noch da ist. „Die Leute passen auf, wenn es kein normales weißes Geschirr ist“, sagt er. Und wenn doch mal etwas kaputt geht: „Shit happens“ – was Französisch ausgesprochen, also ohne H, gleich noch lässiger klingt. Natürlich muss der Kunde für das kaputtgegangene Teil zahlen, aber keine Fantasiepreise.
Meist geht Geschirr ja – man kennt das – beim Spülen kaputt, in dem Moment, in dem man denkt: Ach, was war das für ein schöner Abend gestern, oder: Puh, zum Glück haben die Gäste nichts kaputt gemacht – klirr! Aus dem Grund gehört das Abspülen in der Vitrine unbedingt zum Service dazu. Reineau holt sein Geschirr bei den Kunden dreckig wieder ab und spült es im Hinterzimmer seines Ladens selbst. So viel Liebe muss sein.